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Baukasten:4-in-1-Perspektive-Präsenz

Die 4-in-1 Perspektive von Frigga Haug einnehmen und analysieren - Präsenz

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Arbeit nimmt im Globalen Norden und speziell in Deutschland einen zentralen Platz im Leben der meisten Menschen ein. Arbeit wird meist verkürzt auf Produktionsarbeit und genauer lohnabhängige Beschäftigung. Mit dieser Form von Arbeit ist eine starke gesellschaftliche Wertschätzung verbunden, so dass Produktionsarbeit für viele Menschen Selbstvergewisserung ebenso wie Selbstinszenierung ist. Die Kehrseite ist, dass andere Formen von Arbeit nur wenig anerkannt werden.

Die 4-in-1 Perspektive von Frigga Haug beschreibt vier Formen von menschlicher Tätigkeit: 1) Produktionsarbeit, 2) Reproduktions-/Sorgearbeit, 3) Kulturelle Arbeit/eigene Entwicklung und 4) politische Arbeit. Durch diese Unterscheidung menschlicher Tätigkeiten ist es möglich zu analysieren, wie die Tätigkeiten auf verschiedene Personengruppen verteilt werden und wie manche Gruppen auch gänzlich von Tätigkeiten ausgeschlossen werden.

Die Teilnehmenden erarbeiten sich die vier Begriffe der 4-in-1 Perspektive in der Vorbereitungsphase. In der Präsenzphase übernehmen die Teilnehmenden die 4-in-1 Perspektive, um aus Sicht verschiedener Personengruppen zu analysieren wie viel Zeit sie jeweils auf einen der Bereiche verwenden und in welchem (zeitlichem) Verhältnis die vier Bereiche zueinander stehen. In der Nachbereitung wenden sie die 4-in-1 Perspektive auf ihr eigenes Leben an.

Titel
Die 4-in-1 Perspektive von Frigga Haug einnehmen und analysieren - Präsenz
Thema
Die 4-in-1 Perspektive von Frigga Haug einnehmen und analysieren - digital
Typ
Präsenz
Schlagwörter
Arbeit, Produktionsarbeit, Lohnarbeit, Erwerbsarbeit, Reproduktionsarbeit, Sorgearbeit, Kultur, Politik, 4-in-1 Perspektive
Kompetenzen
Perspektivübernahme, disziplinübergreifende Erkenntnisgewinnung, Umgang mit unvollständigen und überkomplexen Informationen, Bewältigung individueller Entscheidungsdilemmata, Reflexion auf Leitbilder, moralisches Handeln, Unterstützung anderer
Lernformen
systemorientiert
Methoden
Kleingruppenarbeit
Gruppengröße
>2
Dauer
60 Minuten
Material und Räume
Text
Qualität
Sehr gut.
Semester
Wintersemester 2022


Vor-/Nachbereitung

Vorbereitung der Moderation

Die Moderation erarbeitet sich die 4-in-1 Perspektive von Frigga Haug als Ganzes anhand der Literaturliste. Die Moderation erarbeitet sich die vier Begriffe Produktionsarbeit, Reproduktionsarbeit, kulturelle Arbeit und Politik wie sie von Frigga Haug genutzt werden. Die Moderation stellt sicher, dass sie nicht die alltägliche Bedeutung der Begriffe stillschweigend nutzt.

Die Moderation wertet das vorbereitende E-Learning der Teilnehmenden aus und passt ihren Kurzvortrag entsprechend an.

Vorbereitung der Teilnehmenden

optional: Die Teilnehmenden lesen den Text "4-in-1-Perspektive auf einer Seite". https://www.endlich-wachstum.de/wp-content/uploads/2017/01/C_Who-cares_Hintergrundtext-4-in-1-Perspektive.pdf

Nachbereitung der Teilnehmenden

keine

Ablaufplan

00. Minute - Was ist Arbeit?

Hinweise

Die Teilnehmenden sitzen in einem großen Stuhlkreis. Die Moderation bittet die Teilnehmenden zu einer spontanen Definition des Begriffs "Arbeit", es soll schnell gehen, es muss sich nicht um eine Lexikon-Definition handeln. Die Teilnehmenden geben und ergänzen die Definition, die Moderation wiederholt mehrfach genannte Kernbegriffe

5. Minute - Lektüre 4-in-1 auf einer Seite

Die Teilnehmenden lesen den kurzen Text nach Frigga Haug - "4-in-1-Perspektive auf einer Seite". Dies kann auch als Vorbereitungsaufgabe gestellt werden, dann ist mehr Zeit für Kleingruppenarbeit und Abschlussdiskussion.

10. Minute - Kurzvortrag - Begriffsarbeit

Hinweise

Die Moderation führt in zwei Sätzen die Person Frigga Haug ein. Danach wiederholt sie die Begriffe Produktionsarbeit, Reproduktionsarbeit, kulturelle Arbeit und Politik, wie sie von Frigga Haug genutzt werden. Aus dem Text kennen die Teilnehmenden die Begriffe, durch das gemeinsame Wiederholen stellt die Moderation eine ähnliche Wissensbasis für die Kleingruppenarbeit sicher.

Folien

Frigga Haug

  • geboren 1937
  • marxistische Feministin
  • Soziologin / Psychologin / Sozialpsychologin
  • Professorin an der Hochschule für angewandte Wissenschaften Hamburg
  • zahlreiche Gastprofessuren und Lehraufträge im Ausland
  • Mitherausgeberin/Autorin des Historisch Kritischen Wörterbuchs des Marxismus


Produktionsarbeit / Erwerbsarbeit

  • klassische Lohnarbeit
  • aber auch selbstständige Arbeit sowie der Dienst von Beamt_innen
  • in einem weiten Sinn auch Schule und Studium


Reproduktionsarbeit / Sorgearbeit / Verhältnis zur Natur

  • jegliche Form von Haus-, Fürsorge- und Familienarbeit
  • Erziehung von Kindern und Pflege von Angehörigen
  • ganz allgemein der Umgang mit allen Menschen, einschließlich Kindern, Alten, Kranken, Menschen mit Behinderungen sowie den Menschen die *diskriminiert werden
  • Umgang mit den verschiedenen Emotionen


kulturelle Arbeit / eigene Entwicklung / Kreativität

  • nicht nur Konsum von Kulturgütern sondern Mitgestalten der Kultur
  • nicht nur Musik über Spotify hören sondern selber Musik machen
  • nicht nur Hochkultur sondern jegliche Form von Kultur, z.B. Tauben züchten und Fankultur im Fußball


politische Arbeit / Demokratie / politische Teilhabe

  • jegliche Form von politischer Mitgestaltung und Entscheidungsfindung
  • nicht nur das passive/aktive Wahlrecht, sondern Politik im Kleinen und Großen
  • nur nur Berufspolitiker sondern auch ehrenamtliche Betriebsräte und Vorsitzende von kleinen Vereinen

15. Minute - Soziometrie

Die Teilnehmenden stehen auf. Vier Ecken oder Richtungen des Raumes stehen für jeweils einen Bereich der Arbeit nach Frigga Haug: Produktionsarbeit, Reproduktionsarbeit, kulturelle Arbeit und politische Arbeit Die Teilnehmenden beantworten die folgenden Fragen, indem sie sich in die entsprechende Antwort-Ecke /-Richtung begeben:

  • Mit welchem Bereich der Arbeit nach Frigga Haug verbringst du aktuell die meiste Zeit?
  • Mit welchem Bereich der Arbeit nach Frigga Haug würdest du gerne mehr Zeit verbringen?

Nach jeder Frage fragt die Moderation 1-3 Teilnehmende, warum sie sich so positioniert haben.


20. Minute - 4-in-1 Perspektive von gesellschaftlichen Gruppen

Hinweise

Die Moderation teilt die Teilnehmenden in 5er-Gruppen auf.

Die Teilnehmenden nutzen die 4-in-1 Perspektive, um die Sichtweise verschiedener gesellschaftlicher Gruppen zu übernehmen. Jede Kleingruppe analysiert dazu 2-4 der unten gelisteten Gruppen.

Folien

Gesellschaft und 4-in-1

  • In welchem Bereich von 4-in-1 bewegt sich die Gruppe?
  • Wie viel Macht hat diese Gruppe sich ihre Zeit nach 4-in-1 einzuteilen?
  • Wie rechtfertigen wir als Gesellschaft, dass bestimmte Gruppen nicht in allen Bereichen tätig sind?
  • Wie ist eine andere Einteilung der Bereiche ist für diese Gruppe umsetzbar?


gesellschaftliche Gruppen

  • Kinder & Jugendliche*r
  • Person die gerade arbeitslos geworden ist
  • Berufseinsteiger*in
  • Asylsuchende
  • Hausfrau*mann
  • Bundesminister*in
  • Obdachlose*r
  • Vorstand eines Großkonzerns
  • Reinigungskraft
  • Erntehelfer*in
  • Schauspieler*in
  • Rentner*in

30. Minute - Zwischenfazit

Hinweise

Die Teilnehmenden tragen ihre Diskussion in der Großgruppe zusammen.

Die Moderation achtet darauf, dass sowohl die vier Perspektiven wie auch verschiedene Gruppen gleichermaßen betrachtet werden.

40. Minute - 4-in-1 Perspektive umsetzen

Hinweise

Die Moderation teilt die Teilnehmendern in 5er-Gruppen - es können die gleichen Gruppen sein oder auch unterschiedliche.

Folien

Ziel der 4-in-1 Perspektive

  • Widersprüche beseitigen
  • Gleichverteilung von Produktions-/ Sorge- und Reproduktionsarbeit sowie kultureller und politischer Arbeit


Umsetzung der 4-in-1 Perspektive

  • Welche Gruppen werden bei einer Umsetzung der 4-in-1-Perspektive profitieren?
  • Welche Gruppen werden bei einer Umsetzung der 4-in-1-Perspektive leiden?
  • Wie ist eine gesamtgesellschaftliche Umsetzung der 4-in-1-Perspektive umsetzbar?

50. Minute - Abschlussdiskussion

Die Teilnehmenden lösen die Gruppen auf und kommen in einem großen Stuhlkreis zusammen. Mögliche Fragestellungen für die Diskussion:

  • Wünschen sich die Teilnehmenden eine Umsetzung der 4-in-1-Perspektive für sich persönlich?

Warum, warum nicht?

  • Wie unterscheidet sich Frigga Haugs Arbeitsdefinition von der momentan meist genutzten
  • Wie passt die 4-in-1-Perspektive zu Schlagworten wie “Work-Life-Balance”, “Freizeitgesellschaft”, “Fully automated luxury communism”, “Spaßgesellschaft”?

Hinweise und Anmerkungen

Von den Verfasser_innen

Der Baustein wurde basierend auf dem digitalen Baustein zum gleichen Thema und den Erfahrungen im Seminar an der HTW Berlin entwickelt.

Nach weiteren Durchführungen

Noch ausstehend.

Literaturhinweise und Quellen

Vorbereitung der Teilnehmenden

Hinweis

Der Text "4-in-1-Perspektive auf einer Seite" kann bereits vorher bereitgestellt werden.


Texte

nach Frigga Haug - Die 4-in-1-Perspektive auf einer Seite

online: https://www.endlich-wachstum.de/wp-content/uploads/2017/01/C_Who-cares_Hintergrundtext-4-in-1-Perspektive.pdf

Der Ansatz stammt von Frigga Haug: Soziologin, kritische Psychologin und marxistische Feministin aus der westdeutschen Frauenbewegung sowie Mitherausgeberin und Autorin des Historisch Kritischen Wörterbuchs des Marxismus und der Zeitschrift Das Argument. Die Vier-in-Einem-Perspektive ist der Versuch, vor einem sozialistisch-demokratischen Hintergrund eine neue, feministische Perspektive auf Arbeits- zeit zu entwickeln. Angesichts des Verlusts von Arbeitsplätzen durch Produktivitätssteigerung, Digitalisierung und vor dem Hintergrund der ungerechten Verteilung und Bewertung von Reproduktionsarbeit, die immer noch oft von Frauen getätigt und nicht gleichbe- rechtigt gewürdigt wird, plädiert sie für ein neues Verhältnis von Lohnarbeit zu Sorge- bzw. Repro- duktionsarbeit sowie für eine stärkere Gewichtung und Gleichverteilung von kultureller und politischer Arbeit. Ansatzpunkt dafür ist eine neue Perspektive, was als Arbeit gewertet werden sollte, sowie eine gerechtere Umgestaltung des Arbeitszeitregimes. Dabei soll nicht neue Arbeitszeit entstehen, son- dern die vorhandene Arbeit gerecht verteilt werden. Haug identifiziert vier menschliche Tätigkeiten (bzw. Dimensionen des Lebens), die auf die Einzelnen in gleichen Proportionen verteilt werden sollen: Betätigungen 1. im Erwerbsleben, 2. in der Sorge um sich selbst und andere, d. h. in der Reproduk- tion, 3. in der eigenen Entwicklung, 4. in der Politik. Dabei wird hypothetisch von einem 16-Stunden- „Arbeitstag“ ausgegangen, in dem die vier Dimen- sionen des Lebens, die vier Arten von „Arbeit“, idealtypisch gerechnet (nicht absolut, sondern als Richtwert), jeweils vier Stunden Raum ein- nehmen sollen. Im Einzelnen: 1. Erwerbsarbeit: Die Leitlinie hierbei ist eine notwendige Verkürzung der Erwerbsarbeitszeit für alle auf ein Viertel der aktiv zu nutzenden Zeit (vier Stunden). So soll den Problemen von Arbeits- losigkeit (inkl. Leiharbeit und Prekariat) begegnet und eine höhere Konzentration auf die Qualität der Arbeit ermöglicht werden. 2. Sorge- oder Reproduktionsarbeit: Hiermit ist Haus- und Familienarbeit sowie Arbeit an sich selbst und anderen gemeint, z. B. der Umgang mit Kindern, Alten, Kranken, Menschen mit Behinde- rungen, aber auch Freunden und Geliebten, bis hin zum eigenen Verhältnis zur Natur. Hier ist laut Haug eine ausgeglichenere Verteilung der Arbeit nötig: Alle Menschen sollen anteilig in diesem Bereich tätig sein und auch darin ihre sozialen Fähigkeiten entwickeln. So wird dem Streit um Erziehungsgeld und der Minderbewertung von reproduktiven Tätigkeiten (oft die Arbeit von Frauen) begegnet. 3. Kulturelle Arbeit bzw. die eigene Entwicklung: Hierbei geht es darum, sich lebenslang lernend entfalten zu können, das Leben nicht nur als Konsument_in zu genießen, sondern bewusst zu gestalten, es tätig zu genießen und dabei auch eine andere Vorstellung vom guten Leben entwer- fen zu können. Das Recht aller, etwa gleich viel Raum für die eigene Entwicklung zu haben (z. B. für Sprachen lernen, Tanzen, Sport, Musizieren, Reisen, ...), soll dabei verwirklicht werden. Hinter- grundgedanke ist, dass dies nicht nur „den Rei- chen“ vorbehalten sein sollte. 4. Politik: Alle sollen die Möglichkeit und vor allem die Zeit haben, sich an der Gestaltung der Gesell- schaft durch die Politik zu beteiligen, anstatt nur die Folgen der Gestaltung durch wenige zu tragen. Die politische Gestaltung des Gemeinwesens soll nicht nur von professionellen Stellvertretern geleis- tet werden, sondern eine Aufgabe aller werden. Politische Mitgestaltung in Vereinen, Parteien etc., die über die Ausübung des Wahlrechts hinausgeht, braucht allerdings Übung und Zeit. Diese sollte für alle Menschen zur Verfügung stehen. Klar ist, dass dieser Ansatz nicht ohne Weiteres umgesetzt werden kann, jedoch soll er als Ziel und Maßstab für einen gesellschaftspolitischen Umbau herangezogen werden, in dem alle diese vier Bereiche zusammengedacht werden.

Stark gekürzt nach: Haug, Frigga: Die Vier-in-Einem-Perspektive und Hegemoniekämpfe um Arbeit. In: Konzeptwerk neue Ökonomie (Hrsg.): Zeitwohlstand. München 2014 S. 33-38.

Frigga Haug - Was ist eigentlich das Revolutionäre an der Vier-in-einem-Perspektive?

erschienen in: Sozialismus. Juni 2017. 44. Jahrgang. Heft Nr. 419. https://www.sozialismus.de/vorherige_hefte_archiv/sozialismus/2017/heft_nr_6_juni_2017/ Online zu finden unter: https://diefreiheitsliebe.de/politik/was-ist-eigentlich-das-revolutionaere-an-der-vier-in-einem-perspektive/


Brecht empfiehlt: »Das Gehen zu Zielen, die man zu Fuß nicht erreichen kann, muss man sich abgewöhnen.« Die kurzen, einfach formulierten Sätze von Brecht haben es in sich. Immer laden sie zu unmittelbarem Einverständnis ein, das sogleich in produktives Nachdenken übergehen wird – kurz, sie stiften dazu an, sich zu bewegen. Auch im zitierten Satz sieht man beunruhigt, dass wohl kaum das Ziel zur Abgewöhnung empfohlen war, auch nicht die Fortbewegungsart, sondern die bestimmte Kombination dieser beiden. Wenn wieder und wieder die tragende Grundlage der 4in1-Perspektive, dass »Geschlechterverhältnisse Produktionsverhältnisse sind«, bezweifelt wird, der These die Legitimation entzogen wird und alte Kämpfe neu aufgelegt werden und nichts Neues an die Stelle tritt, sollte man sich das Gehen zu einem Ziel des besseren Verständnisses durch die stete Wiederholung beweisender Sätze und Zitate abgewöhnen, einfach schweigen – oder Weg und Ziel anders kombinieren.

Schon vor Jahrzehnten und seither immer wieder erlebten wir, dass in den Quotenkämpfen um gleiche Beteiligung von Frauen in Politik, Wirtschaft, Wissenschaft trotz allem selbstverständlichen Einverständnis (in westlich-kapitalistischen Ländern), dass die Hälfte der Gesellschaft den Frauen zukomme, die konkreten Schritte in der Zurückweisung der Frauendiskriminierung einfach auf der Stelle stampften, bis sich die Kämpfenden entmutigt und erlahmt zurückzogen. Die entscheidende Wende kam in diesem Fall durch die Umkehrung der Frage. So fragten wir nicht mehr danach, warum Frauen nicht in allen Bereichen gleichberechtigt vertreten seien und stellten entsprechend Forderungen vornehmlich an den Staat, sondern danach, was eigentlich die Gegner der Frauengleichstellung für sich und für die gesamte Gesellschaft befürchten, wenn sie das Selbstverständliche, dass auch Frauen Menschen sind, praktisch werden ließen? Diese Frage erwies sich sogleich als fruchtbar, die Ernte war unverhofft groß. Es wurde nämlich als Folge von Frauengleichstellung nicht mehr und nicht weniger befürchtet, als dass alle Menschlichkeit aus der Gesellschaft schwände, Kälte statt Wärme, Hass statt Liebe, Feindschaft statt Freundlichkeit, erbitterte Konkurrenz statt sorgendes Miteinander die Leitlinien der neuen gleichberechtigten Gesellschaft würden. Natürlich sagte das kaum jemand so deutlich, jedoch ließ sich ohne weiteres Stück um Stück das einfache Ergebnis herausschälen: In allen herrschaftlich organisierten und vor allem in kapitalistischen Gesellschaften ist die Frauenunterdrückung ins Fundament eingelassen, um das Miteinander unterhalb der Ebene von Gesetz und Verfassung zu regeln. Es braucht für die Reproduktion dieser Gesellschaften eine Gruppe von Menschen, denen das Menschsein nicht voll zugestanden ist, die aber gleichwohl das Menschliche an der Gesellschaft freiwillig und ohne weiteres Entgelt tun, einfach weil sie anders auch sich selbst nicht wirklich bejahen und reproduzieren können.

Diese Konstellation sieht heute, gut drei Jahrzehnte nach den heftigen Quotenkämpfen, nicht mehr ganz so dramatisch aus. In den letzten Jahren wurde das eine oder andere verändert; um ganz wenige Prozente wuchs sogar der Anteil der Frauen in Spitzenpositionen – nämlich ihrer Beteiligung an Entscheidungen in Wirtschaft, Politik, Gesellschaft, Wissenschaft, überall da, wo es etwas Wichtiges für die Gesellschaft zu bestimmen gab. Allerdings kommt ihr Anteil aus Mangel an Stallgeruch einfach nicht über die Marke von zehn Prozent hinaus. Dies genauer zu erforschen ist aber ein anderes Thema.

Wie steht es mit unserer Frage nach der strategischen Bedeutung der Vier-in-einem-Perspektive für Politik und Erkenntnis, für unsere kollektive Handlungsfähigkeit, wenn die grundlegende These, dass Geschlechterverhältnisse Produktionsverhältnisse sind, auf dem Wege der Diskussion und Argumentation nicht akzeptiert werden will? Wir wechseln die Bewegungsweise und die Zielbestimmung und fragen stattdessen: Was ist eigentlich das Revolutionäre an der 4in1-Perspektive, dass so viele dafür streiten, dass sie international aufgenommen ist nicht nur in Österreich und in der Schweiz, die ja Deutsch sprechen und lesen, sondern auch in Spanien, USA, Frankreich, Belgien, Polen, Türkei (und viele andere, die ich aus Mangel an Buchführung und Zeit vergessen habe; eine Übersetzung ins Persische ist z.B. soeben begonnen worden, weil sie gebraucht wird)? Dafür muss noch einmal zurückgegangen und rekonstruiert werden, was diese Perspektive bündelt, was das Ziel dieser Bündelung ist und welche Wege sie ging, den Aufbruch zu beginnen.

Die neue Ordnung des Projekts 4in1

Das Projekt selbst ist ganz leicht zu verstehen. Ausgehend von der Einsicht, dass Menschen tätige Wesen sind, werden zunächst vier Bereiche nebeneinandergestellt, was im Laufe der Geschichte der Entwicklung der Menschheit auseinanderfiel in Praxen, die verschiedenen Menschengruppen zufielen.

Da ist der Sektor, den wir Produktion und Reproduktion der Mittel zum Leben nennen; dieser ist in kapitalistischen Gesellschaften in der Form der Lohnarbeit geregelt.

Dann der ganze Bereich, der sich um das Leben selbst kümmert, seine Pflege, die Fürsorge, also die Arbeit füreinander, vor allem für diejenigen, die das nicht selber tun können, weil sie zu klein, zu alt, zu krank, behindert sind. Dieser Bereich wurde historisch durchweg den Frauen zugeordnet, ist teilweise in Lohnarbeit überführt und erfreut sich ansonsten der gesellschaftlichen Achtung als Umsonstarbeit in komplizierten Abhängigkeits- und Versorgungsverhältnissen.

Dann der Bereich der eigenen Entwicklung, des Lernens, der Entfaltung »einer Welt produktiver Anlagen«, wie Marx das nennt, in dem also ein jeder/eine jede die eigene Entwicklung und Entfaltung vorantreibt, lernt, sich in den Künsten übt, sich also selber Zweck ist und praktisch erfährt, dass Menschsein mehr heißt als essen, trinken und die nötigen Mittel dazu verdienen in Lohnarbeit.

Den tätigen Tag sich so eingeteilt zu denken, stößt unweigerlich auf die Frage, dass eben eine solche Einteilung ja eine Gestaltung von Gesellschaft ist, dass also die Politik ebenfalls zur Aufgabe und Zeit eines jeden und einer jeden gehören muss.

Es ist überhaupt »nicht neu«, diese Bereiche in Augenschein zu nehmen. Neu ist, die selbstverständliche Über- und Unterordnung, welche die jeweiligen Bereiche in der Gesellschaft, aber auch im Leben der einzelnen erfahren, anders anzuordnen. Dies geschieht zunächst theoretisch im Modell, indem eine Gleichrangigkeit und also Verallgemeinerung der dort nötigen Tätigkeiten auf alle Gesellschaftsmitglieder Ziel des Modellentwurfs ist, welcher seine Füße selbst natürlich ganz praktisch in den Bereichen selbst hat. Insofern ist 4in1 ein Projekt im Werden, ist Perspektive, welche zugleich in den alltäglichen Praxen heute schon lebt.

Der Vorschlag, den Ausgangspunkt theoretisch-politischen Denkens bei der gesamtgesellschaftlichen Arbeit bzw. allen Tätigkeiten zu nehmen und eine andere als die gewöhnliche Ordnung und Verteilung vorzuschlagen, hat von vielen gelernt. Von Marx‘ Projekt – vornehmlich geschrieben in den Feuerbachthesen –, von der »sinnlich praktischen Tätigkeit« auszugehen und die »Selbstveränderung und das Verändern der Umstände in revolutionärer Tätigkeit« zusammen zu begreifen; von Rosa Luxemburgs »revolutionärer Realpolitik« ebenso wie von Antonio Gramscis Staats- und Hegemonietheorie und immer weiter aus den Bewegungen der Arbeiter und der Frauen in den je aktuellen Kräfteverhältnissen.

Der treibende Widerspruch

Die mühsame jahrelange Suche nach der Herkunft und den Gründen für die Dauerhaftigkeit der Frauenunterdrückung und ihrer steten Wiederherstellung, die bei den Frauen in der Studentenbewegung vor allem dazu führte, trotzig den Versuch zu unternehmen, in den marxschen Arbeitsbegriff die Umsonsttätigkeiten der Frauen einzuschreiben und dabei zu scheitern (bekannt als Hausarbeitsdebatte oder englisch »domestic labour debate«), machte den Sprung in eine andere, auch von Brecht beeinflusste Frageweise geradezu zu einem Akt der Befreiung. Sobald die Frage der häuslichen Arbeit nicht ein Streit um ihre Bezahlung wird oder gar um ihre Überführung in Lohnarbeit, die man doch als entfremdete Arbeit weiß und daher gar nicht als Ziel eigener Aktivitäten dachte, kann qualitativ über die Art dieser Tätigkeiten, über ihre Widersprüchlichkeit, zugleich zur menschlichen Perspektive zu gehören wie Subalternität und Unterdrückung zu befestigen, so nachgedacht werden, dass eine neue große Ordnung am Horizont als Befreiungsprojekt auftaucht. Methodisch wird wichtig zu lernen, dass der Widerspruch das Treibende ist und dies auf eine Weise, dass nicht einfach für oder gegen Hausarbeit, Umsonstarbeit, häusliche Tätigkeiten vs. bezahlte Lohnarbeit, also im lähmenden Gegensatz Politik gemacht wird. Erkannt wird, dass jeweils die einzelnen Elemente selbst in einen anderen Kontext gestellt werden müssen, um die fesselnden Dimensionen auszumachen und die befreienden erst entfalten zu können.

Subjekte in Veränderung

Es ist für die einzelnen Menschen je für sich ein wenig schwierig, das vormals Verachtete – etwa die häusliche, die pflegende und fürsorgende Arbeit – als Arbeit zu achten und dies nicht als bloß ideologisches Übermalen zu handhaben. Aber wenn man erst anfängt, darüber nachzudenken, was es bedeutet, dass eine jede und ein jeder sowohl in der Besorgung der gesamtgesellschaftlich notwendigen Lebensmittel engagiert ist – dies in den fachlich außerordentlich ausdifferenzierten Bereichen –, dass aber ebenso ein jeder und eine jede fürsorglich für andere tätig ist und dafür eigene Zeit im Tagesablauf einplant, statt einfach einer Karriere zu folgen; wenn jeder sich und sein Leben reflektiert und erfährt, welche Menschlichkeit in das eigene Leben einkehrt, sobald auch Zeit und Muße ist, Kunst und lebenslanges Lernen als eigens zu entwickelnde Praxen zu planen und dann noch die Gesellschaftsgestaltung als eigene Aufgabe verantwortlich akzeptiert, wird man erkennen, dass fast die gesamte Ordnung in dieser bisherigen Gesellschaft von Krise und Krieg, von Armut für die meisten und Reichtum für wenige, von Verwahrlosung und Überfluss, von Langeweile und Konsum umgekrempelt werden muss. Es ist nicht nur so, dass, wenn man sich das erst durchrechnet, es unmöglich wird, mehr als vier Stunden in der Erwerbsarbeit zuzubringen, damit die anderen drei Bereiche in der tätigen Lebenszeit überhaupt wahrgenommen werden können. Man erkennt zugleich, welch restriktiver Arbeitsbegriff Geltung hat, wenn um den Achtstundentag und um »Vollzeiterwerbsarbeit« gekämpft wird auf der einen Seite, und wenn auf der Gegenseite »Arbeitslosigkeit« der Schrecken ganzer Gesellschaften ist, während doch die Verteilung der gesellschaftlichen Gesamttätigkeiten auf alle ohne weitere Katastrophen möglich wäre. Man erkennt aber auch zugleich, dass für eine solche andere Ordnung ein Plan gebraucht wird, um die Verteilung der Tätigkeiten auch nach den menschlichen Fähigkeiten und Bedürfnissen zu regeln und findet sich unverhofft vor dem Tabu, über Planwirtschaften neu nachzudenken. Es braucht vor allem auch die Einwilligung aller, sich in eine solche von ihnen allen getragenen Gesellschaft zu begeben, wenigstens probeweise. Dies ist selbst ein langwährendes Lernprojekt, das wir eine »konkrete Utopie« nennen können.

Die Stellung der Frauen

Es richtet sich die Vier-in-einem-Perspektive an alle Menschen, dass sie etwa den Streit um Arbeit, ob sie Lohnarbeit, Hausarbeit, produktiv oder nicht sei, beenden dadurch, dass sie von der gesamtgesellschaftlichen Arbeit ausgehen, nicht bloß von der Lohnarbeit, indem sie eben für alle Arbeiten eine andere Ordnung vorschlägt. Diese eröffnet die Möglichkeit, dass an alle Tätigkeitsbereiche verantwortlich gedacht wird und die Verfestigung einiger mit den historischen Individualitätsformen, so zum Beispiel das Sorgen mit den Frauen, aufgesprengt wird. Bei dem notwendigen Umbau der Gesellschaft kommt den Frauen dabei unerwartet statt einer helfenden eine Schlüsselrolle zu. Sie haben ein genuines Interesse, dass etwa die Sorge für diejenigen, die umsorgt werden müssen, auf alle verteilt wird und von einer Geschlechtsspezifik in allgemeine Verantwortung übergeht und keineswegs vergessen wird. Von der Umverteilung aller Arbeiten haben sie als Menschen mehr zu gewinnen als sie verlieren mit dem verlorenen Anspruch aufs Versorgtwerden im unselbständigen Leben

Widerstände

Gibt es eigentlich Widerstände gegen die Vier-in-einem-Perspektive? Zunächst lässt sich zusammenfassend festhalten, dass das Projekt selbst, überall wo ich oder wir es vorstellen, auf große Zustimmung, ja Begeisterung und Erleichterung stößt, als wäre etwas lang Gestautes endlich in freie Gewässer gekommen. Es verschiebt eine Reihe von Problemen durch Verallgemeinerung. Alle sind in allen Bereichen tätig. Mit dieser Perspektive haben wir einen Spannungsrahmen, der es ermöglicht, die Fragen und Analysen der Kritik der politischen Ökonomie zu verbinden mit den Fragen des Individuums und seiner Lebensführung – in Fachdisziplinen gesprochen, die Fragen, die gewöhnlich in Ökonomie und Soziologie behandelt werden, zu verknüpfen mit denen, für die sich die Psychologie, die Psychoanalyse zuständig und kompetent erachten. Zugleich damit greifen wir ein in den praktisch-politischen Streit um gesellschaftliche und individuelle Relevanz der einzelnen Arbeitsarten, gewöhnlich betrachtet als häusliche und »Reproduktionsarbeit« (der Begriff ist ungut und muss unbedingt weitergearbeitet werden, weil er zugleich für die Wiederherstellung des Gesamtsystems, also die kapitalistische Reproduktion, gebraucht wird, als auch für die der Individuen – das gibt mehr Missverständnisse als Begreifen) auf der einen Seite, Erwerbsarbeit auf der anderen, deren Grenzen wir ohnehin wegen der vielen schon in Lohnarbeit überführten Pflegearbeiten zum Beispiel als ungesichert wahrnahmen, deren gesellschaftliche Anerkennung aber entscheidender getrennt ist, was sich in der Bezahlung – gering oder gar nicht – ausdrückt und selbst umkämpft ist. Wir enthierarchisieren sie und, indem wir sie auf gleicher Ebene halten und gleichermaßen besetzen, müssen wir selbst keine bewertende Entscheidung treffen. Die Frage löst sich als Streitfrage auf durch Verallgemeinerung.

Der Kompass

So fungiert die Vier-in-einem-Perspektive als eine Art politischer Kompass, der vom Standpunkt der gesellschaftlichen Gesamtarbeit die einzelnen in die Pflicht nimmt, auch ihre Leben so einzuteilen, dass sie in jedem der Bereiche tätig sind und gleichermaßen sich entsprechend qualifizieren oder bescheiden und solcherart das Leben verträglich genießen. Kurz: Die psychische Seite des 4in1-Projekts verlangt eine bewusste Lebensführung. Gesellschaftlich ist sie mit kapitalistischen Produktionsverhältnissen ganz unverträglich, weil sie Plan anstelle von Markt, Sorge für alle anstelle von Profit und Übervorteilung, allseitige Entfaltung und Ausbildung statt an Wirtschaft orientierte enge Qualifikation und natürlich Politik von unten statt der Kämpfe um die Stellvertreter im Politischen und das gute Leben nicht im Konsum erschöpft, und all dies als Grundlage voraussetzt und zum Resultat hat. Sie ist in diesem umfassenden Sinn praktische Utopie.

Radikale Demokratie

Als Politik von unten und radikale Demokratie ist die Vier-in-einem-Perspektive mit den alten Individuen aus den alten Verhältnissen schwer zu machen, weil diese sich selbst herausgebildet haben, um in Verhältnissen von Konkurrenz, Wettbewerb, Übervorteilung und Neid zu überleben und selbst voranzukommen als Ellenbogenmenschen. So ist sie ein Lernprojekt in Wechselwirkung. Unter den Übergangsverhältnissen werden die bewussten Frauen sich leichter der Zumutung stellen können, in allen Bereichen zu leben. Soweit ihnen die Sorge für andere unter Selbstaufopferung schon lebenslang oblag, lässt sich solche Verantwortung für sie einsichtig auf beide Geschlechter übertragen. Dies ist zugleich eine neue Vorstellung von Gerechtigkeit.

Die Verknüpfung

Das Revolutionäre an der Vier-in-einem-Perspektive ist die Verknüpfung der Bereiche. Keiner sollte ohne die anderen verfolgt werden, weil jeden für sich zu verfolgen auf lange Sicht reaktionär werden muss, wie dies Rosa Luxemburg voraussagt. Im Resümee der gedruckten Fassung von 4in1 (2008) heißt es: »Perspektivisch geht es darum, Gesellschaft von unten zu machen: so wie Rosa Luxemburg von der Demokratie gesagt hat, sie müsse ›auf Schritt und Tritt aus der aktiven Teilnahme der Masse hervorgehen, unter ihrer unmittelbaren Beeinflussung stehen, der Kontrolle der gesamten Öffentlichkeit unterstehen, aus der wachsenden politischen Schulung der Volksmassen hervorgehen‹.« (Gesammelte Werke 4, S. 363f.)

Wenn man die vier Bereiche Erwerbsarbeit, Reproduktionsarbeit, politische Arbeit und individuelle Entwicklung je für sich verfolgt und dies wiederum wie eine Arbeitsteilung handhabt, bei der einzelne Gruppen, Parteien oder gar Strömungen in den Parteien oder zuständige Ressorts je einen isolierten Bereich als ihr Markenzeichen besetzen, büßt die 4in1-Perspektive geradezu notwendig ihren revolutionären Impetus ein. Das gilt ohnehin für die vorhergehende Trennung, in der die einen klassenbewusst eine Arbeiterpolitik betreiben, die für Erwerbstätige greifen kann, während die anderen eine Perspektive aus der Vergangenheit hervorsuchen, eine Utopie für Mütter nach rückwärts, die uns Frauen lebendigen Leibes ans Kreuz der Geschichte nagelt, wie Bloch dies ausdrückt (Ergänzungsband, S. 295); zeitgemäß auf die Entwicklung einer Elite setzen die Dritten, einer Elite, die olympiareif zeigt, was menschliche Fähigkeiten sein können; und im Politischen schließlich partizipative Politikmodelle in unwesentlichen Bereichen sich zusehends großer Beliebtheit erfreuen, etwa das Fernsehen zu einer Modellanstalt von Zuschauerwünschen machen, die Belegschaft an der Gestaltung des Weihnachtsfestes beteiligen, die Bevölkerung an der Mülltrennung. In allen Fällen wird man erfahren, dass jeder Bereich für sich zum Fokus von Politik gemacht, geradezu reaktionär werden kann. Die politische Kunst und so auch das Revolutionäre liegt in der Verknüpfung der vier Bereiche. Keiner sollte ohne die anderen verfolgt werden, was eine Politik und zugleich eine Lebensgestaltung anzielt, die zu leben umfassend wäre, lebendig, sinnvoll, eingreifend, und Anstrengung und Genuss aus dem Gegensatz ins menschlich Angemessene als gutes menschliches Leben zusammenfügt. Man wird sehen, dass das, was in unserer Gesellschaft und unserer Erfahrung als Gegensatz auftritt, zum Beispiel Anstrengung und Muße, in diesem Projekt der 4in1-Perspektive aus dem bloßen Gegeneinander auf eine produktive Stufe gehoben wird mit der Perspektive, das Menschliche am Menschen zu entwickeln, also, um mit Marx zu sprechen, auch das menschliche selbst als Prozess im Werden, als Projekt zu fassen. Es ist also kein Nahziel, nicht heute und hier durchsetzbar, doch kann es heute als Kompass dienen für die Bestimmung von Nahzielen in der Politik, als Maßstab für unsere Forderungen, als Basis unserer Kritik, als Hoffnung, als konkrete Utopie, die alle Menschen einbezieht und in der endlich die Entwicklung eines einzelnen jeden einzelnen zur Voraussetzung für die Entwicklung aller werden kann, wie Marx dies ausdrückt.

[...]

Versuch, mit Widersprüchen zu hantieren

Würde man hingegen beim Versuch, ein solches Projekt praktisch zu proklamieren, stattdessen von den Widersprüchen ausgehen, in die man sich verwickeln muss, stieße man, um konkreter zu werden, etwa auf Folgendes:

Da wäre etwa die Forderung nach dem Recht auf einen entlohnten Arbeitsplatz und die antikapitalistische Politik gegen die Lohnform selber.

Da ist die Forderung, dass alle sich an der gesellschaftlichen Arbeit beteiligen, der gegenüber das Recht auf Selbstbestimmung und eine Pädagogik ohne Zwang stehen, beispielhaft zu studieren an der Politik ums bedingungslose Grundeinkommen.

Alle sollen ihre produktiven Anlagen entwickeln können – aber sie sind nicht alle gleich.

Alle sollen für alle sorgen, Sorgen soll keine Spezialität für einige sein. Aber auch die Sorgearbeit gibt es in Lohnform, und sie ist notwendige Arbeit, da es nicht bloß Freundlichkeit in der Welt gibt.

Die Familienform für unzureichend halten aus Erfahrung und doch ohne Familie ungeschützt sein in Krisen. Dies ist zu lernen in den von der Sparpolitik besonders existenziell betroffenen Ländern wie Spanien Portugal, Griechenland, wo 18% der 18 bis 30-jährigen nicht aus dem Elternhaus herauskommt, weil es weder Arbeit noch Wohnraum für sie gibt.

Wenn die Ausbildung an die Wirtschaftserfordernisse angepasst wird, könnte jeder eine Lohnarbeitsstelle bekommen. Das stößt sich umgekehrt an der Vorstellung der Unabhängigkeit jeder Ausbildung von utilitaristischen Zwecken, usw.

Das Projekt müsste für praktische Politik noch einmal durchgearbeitet und eine Ebene höhergestellt werden, und Forderungen müssten formuliert werden, welche die Bedingungen angehen, in denen die Fähigkeiten und Fertigkeiten vermittelt werden können, die man zum Leben in den vier Bereichen braucht. Das wäre zum Beispiel einmal eine allgemeine Fertigkeit in Handarbeit oder Vorstufe zu Facharbeit, früher polytechnische Erziehung genannt und ebenso eine universelle Ausbildung in der Geschichte der Kopfarbeit, kurz ein Forderungsensemble, welches eine Umkrempelung der Bildungsinstitutionen zum Ziel hat. Dann eine allgemeine Ausbildung in Haushalt und Familie einschließlich der Pflege bei Krankheit, d.h. auch ein allgemeines Wissen in Körper und seine Gesundhaltung. Ferner könnte – wie früher in der DDR – mit der Hochschulreife eine Facharbeiterbefähigung und der Führerschein erworben sein. Zur notwendigen Ausstattung gehört eine Ausbildung in künstlerischen Fähigkeiten je nach Veranlagung und Selbstbestimmung und die Frage der Naturbewahrung und Erhaltung, kurz eine Einführung in Ökologie. Eine Art »Lebensschein« ist auszuarbeiten, dass die individuellen Energien unter den Bedingungen oder unter einer Zeitverfügung von 4in1 sich anders verteilen können. Wofür man also sich engagiert und sein Leben einsetzt, dass in der Perspektive jeder nach seinen Bedürfnissen lebt, wie Marx in der Kritik des Gothaer Programms oder im Kommunistischen Manifest skizziert, findet hier seinen Anker.

Die Verstrickung im Hier und Jetzt macht das Projekt zugleich unmittelbar praktisch und läuft jederzeit Gefahr, sektiererisch und reaktionär zu sein. Was nicht gesprochen war in der erzählten Vorstellung der 4in1-Perspektive und je neu erarbeitet werden muss, ist das Studium der Kräfteverhältnisse und die aktuell immer neue Artikulation für die treibenden Widersprüche, ist also auch die Bedeutung des historischen Moments. Wie bei Rosa Luxemburg – und auch bei Antonio Gramsci unausgesprochen vorausgesetzt – braucht es für eine Politik in der 4in1-Perspektive eine Gruppe von geschulten Intellektuellen, die diese Politik von unten beständig forschend begründen und weiter entwickeln unter Einschluss so vieler wie möglich. So wäre die Antwort auf die Frage nach dem Revolutionären in der 4in1-Perspektive:

Es ist die Zumutung, die Verhaltensweisen, die Lebensführung, sich selbst anzumessen und die unweigerlich damit verbundene Aufgabe und Verantwortung für die Veränderung der Bedingungen sich einzusetzen, die das Leben in der 4in1-Perspektive überhaupt erst möglich machen. Dies ist das Faszinierende, und zugleich Revolutionäre an der 4in1-Perspektive, dass sie den einzelnen die Möglichkeit eröffnet, sich diese Lebensführung für sich vorzustellen und mit der Realisierung sogleich zu beginnen also konkrete Utopie in einer Zeit, da die Preisgabe von Hoffnung zu den wohlfeilen Waren des neoliberalen Projekts gehört. Es ist zugleich die Begegnung mit dem Verlust, dass man der Entfaltung vieler Möglichkeiten im Künstlerischen, im Lernen im eigenen Leben zu wenig Raum gegeben hat und Einlösung des Versuchs, dies noch, soweit es geht, zu ändern und schließlich auch die Einsicht, dass fürsorgendes Handeln, nicht bloßes Abdienen von Pflegearbeit ist, kein Care-Problem, sondern sich auf die Freundlichkeit in der Welt erstreckt bis hin zu individueller Liebe und Freundschaft.