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Aktuelle Version vom 23. Februar 2016, 20:46 Uhr
Zeitwohlstand
Was ist Zeitwohlstand?
Zeitwohlstand beginnt, wenn Zeitplanung von der bloßen Anordnung „alternativloser“ Tätigkeiten zu einem selbstbestimmten Prozess wird, der Raum für eigene Bedürfnisse und persönliche Schwerpunkte lässt ohne existierende Verpflichtungen vernachlässigen zu müssen. ''' „Zeitwohlstand ist der Zustand in dem die zur Verfügung stehende Zeit die zur Abarbeitung der To-Do-Liste benötigte Zeit (deutlich) übersteigt“ " - Hartmut Rosa Das Konzept Zeitwohlstand existiert seit den 80er Jahren und greift das Gefühl vieler Menschen auf, nur noch von Termin zu Termin zu springen. Der Soziologe Hartmut Rosa prägt dafür den Begriff des „rasenden Stillstands“. Bei der Untersuchung des Phänomens stellt sich heraus, dass wachsender Güterwohlstand oft mit sinkendem Zeitwohlstand einhergeht, bzw. Zeitmangel insbesondere dann bemerkt wird, wenn ein gewisses Maß an Güterwohlstand erreicht ist.
Der Mangel an Zeit
''“Heute darbt die Amerikanische Gesellschaft – es ist nicht der Hunger der Somalis oder anderer Kulturen, die an Nahrungsmangel sterben, es ist vielmehr der endgültige Mangel der postmodernen Welt: der Mangel an Zeit. Wie antike Athenische Philosophen erkannten, stirbt man nicht an Zeitmangel, sondern beginnt gar nicht erst zu leben.”''
- John Robinson and Geoffrey Godbey 1999
''„At present, American society is starving — not the starvation of the Somalis or other traditional cultures, who die for lack of food, but for the ultimate scarcity of the postmodern world, time. Starving for time does not result in death, but rather, as ancient Athenian philosophers observed, in never beginning to live.“''
Woher soll die Zeit kommen?
Die arbeitsmarktpolitischen Signale der letzten Jahre sind eindeutig:
keine Fortschritte bei der Reduktion der Wochenarbeitszeit, sogar Ausweitung der Arbeitszeiten in manchen Branchen und bei den öffentlichen Angestellten und Beamten. Dabei ist der Anstieg der Produktivität ungebrochen, für das gleiche Ergebnis muss heute deutlich weniger Arbeit aufgewendet werden als früher.
Weder die Reallohnentwicklung noch die Wochenarbeitszeit spiegeln dies wieder.
Die Produktivitätsgewinne werden stattdessen privatisiert.
Umfragen kommen zum Ergebnis, dass sich viele Menschen 30 Stunden Erwerbsarbeit pro Woche als Ideal vorstellen.
Allerdings ist die 30-Stunden-Woche eine Seltenheit. Im Bereich der geringbezahlten Dienstleistungen gibt es häufig Verträge mit geringerer Stundenzahl und entsprechend geringem Gehalt und auch die meisten Teilzeitverträge haben geringere Stundenzahlen. Daneben gibt es die Vollzeitstellen mit Arbeitszeiten zwischen 35 und 45 Stunden pro Woche.
Die zwei Ansatzpunkte für eine flächendeckende Vergrößerung des Zeitwohlstands sind demnach die Verteilung der verrichteten Arbeit auf mehr Menschen und eine gemeinsame Entscheidungsfindung darüber, wie Produktivitätsgewinne verteilt werden sollen.
Warum haben wir keinen Zeitwohlstand?
Technische Neuerungen versprechen häufig Zeitgewinn für die Nutzer_innen, indem sie Vorgänge beschleunigen. Mag dies noch zutreffen, so muss jedoch bedacht werden, dass häufig auch die Zahl der Vorgänge stark erhöht wird und so ein vermeintlicher Zeitvorteil gar nicht existiert. Ein Beispiel: E-Mails haben die schriftliche Kommunikation revolutioniert, sie sind schnell und günstig. Empfingen und schrieben wir früher jedoch nur wenige Briefe am Tag, so sind dutzende E-Mails heute für viele keine Besonderheit. E-Mail hat also den Zeitaufwand für schriftliche Kommunikation eher nicht reduziert. Neue Prozesse bieten vielen Arbeitnehmer_innen die Möglichkeit ihre Arbeitszeiten flexibler zu verteilen, bis hin zur Vertrauensarbeitszeit, die ohne Stundenzettel auskommt. Flexibilisierung der Erwerbsarbeitszeiten bedeutet jedoch nicht automatisch einen Gewinn an Zeitwohlstand. Vertrauensarbeitszeit braucht Arbeitnehmer_innen die sich trauen, nach Hause zu gehen, auch wenn man immer noch eine halbe Stunde zu tun hätte. Und auch nach Verlassen des Arbeitsplatzes und Erledigung aller nebenher zu erbringender Care-Arbeit bietet die heutige Welt unendliche Möglichkeiten sich im Freizeitstress zu verrennen.
Kellogs 6h-Tag
Mit der Wirtschaftskrise im Jahr 1929 wurde von Will K. Kellogg ein revolutionäres Arbeitszeitmodell eingeführt: Statt drei 8-Stunden-Schichten wurde der Tag in vier 6-Stunden-Schichten geteilt. Dadurch wurden 30% mehr Arbeiter_innen benötigt, die bisherige Belegschaft nahm Lohneinbußen von ca. 12% in Kauf. 1932 wurden die Auswirkungen auf die Belegschaft im Auftrag des Arbeitsministeriums untersucht: 85% der Befragten bevorzugten das neue Modell und nannten als Gründe mehr Zeit für die Familie, gesteigertes Interesse an der Arbeit und bessere Einbindung in die Gemeinschaft. Die alten 8-Stunden-Schichten wurden mit Einschränkung und Knechtschaft verbunden, das neue Modell hingegen mit Freiheit und (Selbst-)bestimmung. Das gesellschafliches Leben erlebte einen Aufschwung, Vereine, Bibliotheken und Gemeindeleben florierten und Zeit zu Hause wurde nicht nur mit Entspannung und Konsum verbracht, sondern für Hausarbeit genutzt: Gartenarbeit, Nähen, Einmachen, Tischlern - am liebsten mit der ganzen Familie. In Abstimmungen nach Ende des zweiten Weltkriegs votierten 75% für eine Wiedereinführung der aus Kriegsgründen ausgesetzten 6-Stunden-Schichten. Dies geschah gegen den ausdrücklichen Wunsch der neuen Führung, die Kelloggs Wohlfahrtskapitalismus nichts abgewinnen konnte. Allerdings blieben längere Arbeitszeiten ausdrücklich erlaubt und wurden durch großzügige Lohnanreize beworben. Durch die wachsenden Konsummöglichkeiten wurde Geld wichtiger, Selbstgemachtes verlor seinen Reiz, da alles zu erwerben war. Langsam wandelte sich die gesamte Firmenkultur wieder, so dass Ende der 60er Jahre nur noch eine kleine Minderheit sechs Stunden pro Tag arbeitete. Diese wurden als „schwache Mädchen“, „Hausfrauen“ oder „Schwächlinge“ beschimpft, die die Ernsthaftigkeit der Arbeit nicht verstanden hätten.
Der gewerkschaftliche Kampf um die Zeit
Im 19. und 20. Jahrhundert waren die Gewerkschaften die treibende Kraft im Kampf um eine Reduktion der Arbeitsbelastung, die aus der Industrialisierung entstanden war. Die Verankerung des freien Sonntags in der Weimarer Verfassung von 1919 ist dabei ein Meilenstein. ''„Der Sonntag und die staatlich anerkannten Feiertage bleiben als Tage der Arbeitsruhe und der seelischen Erhebung gesetzlich geschützt.“'' Die 48-Stunden-Woche mit sechs Arbeitstagen à acht Stunden wurde daraufhin durchgestezt, die Fünf-Tage-Woche folgte als Gewerkschaftsprojekt in den 50er Jahren mit der DGB-Kampagne ''„Samstags gehört Vati mir!“'' Damit wurde die 40-Stunden-Woche in der Industrie ab den 60er Jahren zum Normalfall. Bis in die 90er Jahre hinein wurde die Arbeitszeit so kontinuierlich gesenkt. Seit 1995 ist beispielsweise eine Regelarbeitzeit von 35 Stunden pro Woche in der Druck-, Metall- und Elektroindustrie etabliert. Im weiteren Verlauf der Jahre kam es jedoch in vielen Branchen zu einer schleichenden Rückkehr zur 40-Stunden Woche.
Care-Arbeit
Arbeit und Arbeitsbelastung wird immer noch stark an den Daten zur Erwerbsarbeit diskutiert und verhandelt. Dabei kommt zu kurz, dass die oftmals von Frauen kostenlos geleistete Care-Arbeit, häusliche Arbeit, Erziehung und Pflege einen großen Teil der Arbeitsbelastung ausmacht. Diese erfahren sowohl finanziell als auch gesellschaftlich eine deutlich geringere Wertschätzung als bezahlte Arbeit. Eine mangelhafte Geschlechtergerechtigkeit im Bereich der Care-Arbeit ist offensichtlich und zugleich noch schlechter quantifizierbar als zum Beispiel eine ungleiche Bezahlung für gleiche Arbeit. Nicht nur im häuslichen Bereich wird Care-Arbeit geringgeschätzt. Bis hinein in die Erwerbsarbeit reicht eine massive Ungleichbehandlung. Trotz vergleichbar langer Ausbildung und dem öffentlich beteuerten Mangel an Fachkräften wird die von Frauen dominierten Kinder-, Kranken- und Altenpflegearbeit deutlich schlechter bezahlt als in der bisherigen Männerdomäne Metall- und Elektroindustrie - unabhängig davon, ob es sich um ungelernte Kräfte, Facharbeiter_innen oder Akademiker_innen handelt. Hierdurch wird das traditionelle Familienmodell „männlicher Alleinverdiener plus Vollzeitmutter“ weiter am Leben erhalten. Zeitwohlstandsstrategien können hier einerseits Überwiegend-Care-Arbeitende entlasten und geben gleichzeitig den Überwiegend-Erwerbsarbeitenden die Chance sich zu Hause mehr zu engagieren.
4-in-Einem-Perspektive
Ziel der Vier-in-Einem-Perspektive ist eine größere Gerechtigkeit bei der Verteilung von Erwerbsarbeit, Care-Arbeit, Entwicklungschancen und Einbringung in das Gemeinwesen. Frigga Haug geht von den16 wachen Stunden eines Tages aus und schlägt vor diese in vier gleich große Teile zu zerlegen, so dass sich jeder Mensch in alle Bereiche des menschlichen Lebens einbringen kann. * Erwerbsarbeit: 4 Stunden nicht verstanden als Teilzeit, sondern als neue Vollzeit für Alle * Care-Arbeit: Nicht hauptsächlich von Frauen, sondern durch Alle. * Persönliche Entwicklung: 4 Stunden Zeit um seinen eigenen künstlerischen, kulturellen, sozialen etc Neigungen nachzugehen * Gemeinschaftliche Themen: Jede_r soll genügend Zeit haben und ist angehalten sich einzubringen
Droht die Langeweile?
Arbeit ist identitätsstiftend. Die Vorstellung einer deutlich reduzierten Arbeitszeit weckt daher Befürchtungen, dass mehr private Zeit eher langweilig ist als selbstbestimmt. Doch diese Vorstellung ist verkürzt: Ist bei Vollzeitarbeit nach momentanen Standards die Vereinigung von gesellschaftlichem Engagement, Sport, Hobbys und Familie ein zeitplanerischer Balanceakt und oftmals nur besonders Priviligierten möglich, so würde eine deutliche Reduktion der Wochenarbeitszeit neue Freiheiten schaffen. Langeweile hingegen tritt auf, wenn man das Gefühl hat, dass gerade Zeit ungenutzt verstreicht, die eigentlich dringend gebraucht würde: beim Warten auf den verspäteten Zug oder den Arzttermin.